Wo die Stadt einst endete – der Bielingplatz

//Wo die Stadt einst endete – der Bielingplatz

Wo die Stadt einst endete – der Bielingplatz

Aus Sicht des Architekturhistorikers und Stadtplaners ist der Bielingplatz schon ein etwas merkwürdiges Gebilde, zumindest in Hinblick auf seine Randbebauung. Von oben gesehen indessen handelt es sich um eine für die Stadtplanung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts typische rechteckige (ursprünglich als Rondell geplante) Anlage, in die die sechs Straßenzüge einmünden. Während Kressen-, Haller- und die heutige Hufelandstraße erst zwischen 1898 und 1905 zusammen mit dem Platz entstanden, sind Lerchenbühl- und Heimerichstraße alte Verkehrswege, die St. Johannis mit Schnepfenreuth und Wetzendorf verbanden. Erstere, zuvor „Schmatzengäßchen“ benannt, erhielt ihren heutigen Namen 1912, Letztere – vormals Teil der Wetzendorfer Straße – 1976 beim Bau des Nordwestringes, der die historischen Verbindungen radikal kappte.

Als Namenspate für den künftigen Platz erkor man 1882 den Nürnberger Buchdrucker und Magistratsrat Gustav Philipp Jakob Bieling (1744–1816) aus, dessen Grab auf dem Johannisfriedhof liegt. Dass Bielingplatz und Bielingstraße einander nicht kreuzen, ist ungewöhnlich und war anno dazumal auch nicht so gedacht. Doch entschied die Stadt sich irgendwann zwischen 1925 und 1936 dazu, das kurze Teilstück der Bielingstraße zwischen Rieterstraße und Bielingplatz aufzulassen.

Noch in den 1960er Jahren wirkte der Bielingplatz einigermaßen unfertig und ausgefranst. An der Lerchenbühlstraße (links) gab es damals sogar eine Tankstelle. Foto: Bischof & Broel (Sammlung Sebastian Gulden)

Heute vermag man sich nur mehr schwer vorzustellen, dass der Bielingplatz um die vorletzte Jahrhundertwende am äußersten Rande der Stadt lag. Nach Norden und Nordwesten breiteten sich die Äcker des Knoblauchslandes aus, hie und da aufgelockert durch eine Gärtnerei oder Baumschule. Im Schwange des ungebändigten Wachstumes, das Nürnberg seit den 1860er Jahren erfasst hatte, rechneten Stadtplaner, Grundstücksspekulanten und Bauunternehmer indes fest damit, dass das Häusermeer den Platz recht bald umschließen würde. Und so kam es auch, wenn auch nicht so rasch wie erwartet.

Übrigens: Bei seiner Anlage gab es auf dem Bielingplatz, der als Verkehrsknoten geplant war, noch keinen Hauch von Grün. Auch ein zentrales Denkmal oder ein Brunnen war nie geplant. Sein Schattendasein als Abstellfläche für die Blechkübel aus der Nachbarschaft begann erst in den Nachkriegsjahren, als sich mehr und mehr Menschen einen fahrbaren Untersatz leisten konnten. Die Verkehrsberuhigung, die Baumpflanzungen und der Spielplatz auf der Platzfläche hingegen sind Errungenschaften der jüngeren und jüngsten Vergangenheit, da der Trend wieder verstärkt zur menschen- statt zur autogerechten Stadt geht.

Der Bielingplatz von der Hallerstraße gegen Nordosten gesehen, um 1918 und 2021. Das Haus Hallerstraße 51 (links der Bildmitte) wurde 1971 durch einen Neubau ersetzt. Fotos: unbekannt (Sammlung Sebastian Gulden)/Adlihtam Aida

Nun aber zur Randbebauung des Platzes, seinen „Wänden“, wie der Stadtplaner sie nennt: Der Grund für das Potpourri, das sich dem Betrachter darbietet, liegt in der langjährigen Randlage, den Irrungen und Wirrungen der Geschichte begründet. Denn bis sich die Häuserzeilen rund um das große Rechteck schlossen, vergingen über 130 Jahre.

Auf dem „Wurmfortsatz“ des Platzes zwischen Heimerich- und Lerchenbühlstraße stand als erstes und ältestes Bauwerk im weiteren Umfeld ein Bauernhof mit Stadel und Backofen, der sich bis mindestens ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt und zuletzt Sitz der kleinen Privatbrauerei Johann Dummet war. Erst nach 1945 wurde er zusammen mit dem benachbarten Wirtshaus „Zum Eppelein“ (Heimerichstraße 52), einem hübschen Bau im Stil der Neorenaissance, weggerissen.

Nebeneinander von Neu und Alt: die Wohnanlage an der Lerchenbühlstraße und die Peter-Vischer-Schule am nördlichen Rande des Bielingplatzes, 2021. Foto: Adlihtam Aida

Der zweite Bauherr am Platze war, ganz und gar passend zum genius loci der Gegend, ein Gärtner: Der riesige Nutzgarten des Johann Friedrich Mäußlein und sein Haus, ein kleiner, erdgeschossiger Bau mit hohem Mansarddach im Stil des Klassizismus, das Maurermeister Johann Ziegler und Zimmermeister Georg Wicklein 1883 erbaut hatten, standen, wenn auch mit einer unschönen Verkleidung aus Eternitplatten, noch bis 2012 an der Ecke Lerchenbühl- und Hufelandstraße (Nr. 1, vormals Hallerstraße 63). Leider mussten beide bis 2013 einer Wohnanlage weichen. Offenbar nahm man sich bei der Planung den benachbarten Apartmentkomplex Hufelandstraße 3–9 aus den 1970er/1980er Jahren zum Vorbild, sodass die Baukörper nicht so recht zum großstädtischen Gepräge der übrigen Platzränder passen wollen.

Die Stadtplaner und Baumeister der Zeit um 1910 machten sich noch die Mühe, den Platz anhand eines einheitlichen Konzeptes zu bebauen und etwas Bleibendes von Wert für die Allgemeinheit zu erschaffen, anstatt nur Wohnraum zu „erstellen“. Und das, obwohl der Immobilienmarkt damals noch weit mehr brummte und die Erwerbs- und Baukosten ganz ähnlich explodierten wie heute, von den schon seinerzeit nicht unerheblichen baugesetzlichen Auflagen ganz zu schweigen.

Die heutige Peter-Vischer-Schule auf einer (falsch beschrifteten) Ansichtskarte der 1930er Jahre und heute. Fotos: Georg Schönleben (Sammlung Sebastian Gulden)/ Adlihtam Aida

Da ist zuvorderst der gewaltige Baukörper der bereits erwähnten Peter-Vischer-Schule (vormals schlicht „Bielingschule“), der den Platz im Norden abschließt. Die frühere Volksschule zählte bei ihrer Errichtung 1912–1914 zu den letzten „Schulpalästen“, jenen stadtbildprägenden, repräsentativ gestalteten großen Schulgebäuden, die im Nürnberg der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg entstanden. Die Bielingschule löste das 1882 vollendete Gebäude in der Adam-Kraft-Straße ab, das anschließend der Berufsbildung diente und erst seit jüngerer Zeit wieder ABC-Schützen beherbergt. Ihr Schöpfer, der städtische Oberingenieur und erfahrene Schulhausarchitekt Georg Kuch, gab dem größten unter den Schulpalästen Nürnbergs den Grundriss eines gespreizten „U“, das mit seinen vier Vollgeschossen und hohen Walmdächern, die zwei Dachreiter mit Welschen Hauben bekrönen, den Bielingplatz im Norden tatsächlich wie eine Wand abschließt.

Durch gestalterische Kunstgriffe wie die gedrungenen, an Burgtürme erinnernden Ausluchten an den Ecken des Mittelflügels, durch Vor- und Rücksprünge an den Fassadenfluchten und der Firstlinie, flache Erker, Giebel, Gliederungselemente wie Gesimse, Blendfelder und Materialwechsel sowie dezenten, aber wirkungsvollen Bauschmuck aus Kunststein gelang es Kuch, dem Bauwerk viel von seiner Schwere zu nehmen.

Den Flair der Zeit um 1910 verströmen die Mietshäuser Kressenstraße 33/35 und Heimerichstraße 24 mit dem Restaurant „Helena“ (von links), die die Ostseite des Bielingplatzes dominieren. Foto: Adlihtam Aida

Zeitweise nach Nazi-Gauleiter Hans Schemm benannt, gehörte die Bielingschule 1945 zu den wenigen Großbauten Nürnbergs, die im Bombenkrieg unbeschädigt geblieben waren. Und so okkupierten die Stadtverwaltung und nach ihr die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung (die heutige Bundesagentur für Arbeit) das Gebäude. Ferner fanden hier im Zuge der Entnazifizierung einige der Spruchkammerverfahren statt, unter anderem 1947 jenes gegen den letzten Reichskanzler der Weimarer Republik Franz von Papen. Bis die Volksschülerinnen und -schüler mit ihren Lehrerinnen und Lehrern das Haus wieder in Besitz nehmen konnten, dauerte es bis 1954. Heute beherbergt es ein Gymnasium und eine Realschule.

Von gebührend bescheideneren Dimensionen nehmen sich die Mietshäuser an der spitzwinkligen Einmündung von Kressen- und Heimerichstraße im Südosten des Schulhauses aus. Sie sind Ergebnis eines privaten Projektes zur Quartiersentwicklung des Nürnberger Kaufmannes und Bauunternehmers Nicolaus Weber aus der Zeit um 1910. Seine Architekten Joseph Ochsenmayer und Heinrich Wißmüller gestalteten die Gebäude als fünfgeschossige Traufseitbauten. Dabei stellt jedes Haus ein unverwechselbares Unikat dar, sodass die Bautengruppe wirkt, als sei sie über Jahre von unterschiedlichen Planern und Bauherrn geschaffen worden. Die Fassaden belebten die Architekten mit Erkern, Loggien und Bauschmuck im Geiste des späten Jugendstils. Im Erdgeschoss der Heimerichstraße 24 ist das beliebte griechische Restaurant „Helena“ mit seinem lauschigen Schanigarten zu Hause, das heuer sein sage und schreibe vierzigjähriges Bestehen feiert.

Das Häuser-Ensemble Hallerstraße 53/Heimerichstraße 25–29 (von links) hat sich bis heute seinen ursprünglichen Charakter weitgehend bewahren können. Foto: Adlihtam Aida

Die Südwestecke des Platzes akzentuierte die Architektensozität Kern & Fiedler im Auftrag des Fabrikanten Conrad Wunderlich mit zwei mächtigen, fünfgeschossigen Mietshäusern (Hallerstraße 51/53), die trotz ihres heiteren, dem Barock anverwandten Formen wie ein Turm wirkten. Neben großzügigen Wohnungen enthielten die Gebäude im Erdgeschoss je ein Ladengeschäft. Dass die Häuser 1913 unverkennbar als Zwillingspaar geplant worden waren, kümmerte die Immobiliengesellschaft B. F. B. anno 1971 nicht, als sie die völlig solide, aber angeblich abgewohnte Nr. 51 durch einen Neubau nach Planung von Hans Aicher ersetzen ließ. Erhalten haben sich hingegen die Mietshäuser, die sich im Westen an der Heimerichstraße anschließen: Sie entstanden um 1914 im Reformstil, besitzen aber lediglich drei Vollgeschosse und wirken mit ihren von Erkern, Zwerchhäusern und dezentem Bauschmuck versehenen Fassaden zierlich und kleinstädtisch, leiteten sie doch zu ihrer Bauzeit vom Rande der Großstadt in die ländliche Welt des Knoblauchslandes über. Dass es gen Westen in diesem Duktus weitergehen sollte, zeigt das einsame, aber sehr malerische Mietshaus Heimerichstraße 54 von 1912, das heute wie hingestellt und nicht abgeholt inmitten moderner Bebauung neben der früheren Pflege- und Krippenanstalt stand.

Als jene Stadtrandhäuser vollendet waren, brach der Erste Weltkrieg aus, und mit dem Bauen war erstmal Schluss: Viele Handwerker, Bauarbeiter und Architekten mussten an die Front, es gab Engpässe bei der Materiallieferung, auch, weil das Reich alle Ressourcen für den Krieg beanspruchte. Der Bau des oben erwähnten Mietshauses Hallerstraße 51 musste ruhen und konnte erst 1918 (!) abgeschlossen werden. Nach dem verlorenen Krieg mit der damit verbundenen wirtschaftlichen Not war die Luft raus, und auch in den folgenden Jahrzehnten baute niemand mehr am Bielingplatz, der nach wie vor ziemlich „jwd“ lag.

Seit 2020 prägt der Neubau eines Mehrgenerationenhauses mit der Kita „Hollerbusch“ die südliche Wand des Bielingplatzes. Foto: Adlihtam Aida

Nach dem Zweiten Weltkrieg machte sich die Anthroposophische Gesellschaft daran, auch die Lücken an der Südseite des Platzes zu schließen, nun jedoch in offener Bauweise mit viel Grün drumherum. So entstanden ab den 1950er Jahren auf dem Areal zwischen Rieter-, Heimerich- und Hallerstraße an Stelle von Lagerhallen das Rudolf-Steiner-Haus, das Michael-Bauer-Altenheim und der Waldorf-Kindergarten „Hollerbusch“. Letzteren ersetzte die Genossenschaft „Wahlverwandtschaften Nürnberg“ 2018–2020 durch ein sechsgeschossiges Laubenganghaus mit gerundeten, aus der Natur entwickelten Formen nach Planung von stömer.will.weidinger architekten, das Mehrgenerationenwohnungen und auch wieder jene Kita beherbergt. Damit schließt der Neubau an die mehrgeschossigen Mietshäuser an, die um 1910 den Anfang der großstädtischen Bebauung des Bielingplatzes gemacht hatten.

Derzeit laufen Debatten und Planungen um die Neugestaltung des Bielingplatzes (wieder mal) auf Hochtouren. Die Kfz-Parkplätze sollen endgültig einem Park weichen. Die letzte noch freie Platzwand im Westen soll ein Neubau ausfüllen, der dann sozialen und kulturellen Zwecken dient. Dass in diesem Zuge auf das benachbarte „Haus für Kinder“ an der Heimerichstraße 42 abgebrochen und durch ein neues Gebäude ersetzt werden soll, ist mit Blick auf die architektonische Qualität des noch recht jungen Bauwerkes und das Thema „Graue Energie“ durchaus kritikwürdig. Erfreulich ist dagegen, dass, bis die Planungen für den Park weiter gediehen sind, der Verein Bluepingu im Rahmen des Projektes „Essbare Stadt“ auf den vormaligen Parkplätzen vor dem Schulhaus Obst- und Gemüsegarten für die Bürgerinnen und Bürger des Stadtteiles anlegen darf. Und so schließt sich der Kreis zwischen heute und dem fernen Jahre 1883, als noch Äcker und Gärten den künftigen Bielingplatz und sein Umfeld bestimmten.

Sebastian Gulden

2021-09-23T20:40:19+02:00