Große Baukunst aus privater Hand – die Mietspaläste an der Rieterstraße

//Große Baukunst aus privater Hand – die Mietspaläste an der Rieterstraße

Große Baukunst aus privater Hand – die Mietspaläste an der Rieterstraße

Ob St. Johannis wirklich der schönste Stadtteil der Welt ist, wie viele seiner Bewohnerinnen und Bewohner eilfertig bekunden, sei dahingestellt. Fest steht aber, dass sein Genius loci eng verwoben ist mit seiner reichen und in großer Geschlossenheit überlieferten historischen Bausubstanz. Vergessen sind die Zeiten, da die großen Altbauwohnungen von der Größe eines respektablen Einfamilienhauses als desolate Wanzenburgen galten. Heute sind sie auf dem Kauf- und Mietmarkt gefragt wie zu ihrer Bauzeit – und für das Gros der Interessenten ebenso unerschwinglich. Wer das Glück hat ein solches „Palais auf einer Etage“ bewohnen zu dürfen, der will dort in der Regel nicht mehr weg.

Wer das Flair des großbürgerlichen Nürnberg der vorletzten Jahrhundertwende sucht, findet im östlichen Teil der Rieterstraße zwischen Bucher und Heimerichstraße das Idealbild einer noblen Vorstadtstraße: Ein Saum von fünf Meter tiefen Vorgärten mit kunstvollen Eisengitterzäunen, Mauern, Pfeilern und Torbögen aus Rotsandstein verleihen der Straße Weite und Erhabenheit. Die braucht es auch, säumen doch durchwegs vier- bis fünfgeschossige Mietspaläste den Straßenzug, die sie ohne würdigen Abstand in eine schattige Schlucht verwandeln würden.

Die Rieterstraße ist ein verhältnismäßig junger Verkehrsweg: Obschon bereits Ende des 19. Jahrhunderts geplant, wurde sie erst 1905 angelegt und nach der Familie Rieter von Kornburg, einer der ratsfähigen Sippen der alten Reichsstadt, benannt. Die ersten Jahre ihres Bestehens war sie (wie übrigens die meisten Nürnberger Nebenstraßen dieser Epoche) eine Schotterpiste, auf der lediglich die ehedem vier Meter (!) breiten Trottoirs und die Kreuzungen gepflastert waren. Erst 1915 erhielt auch die Fahrbahn einen Belag aus Kopfsteinpflaster.

Bis auf einige Vorstadthäuser, von denen die Bucher Straße 71 bis heute erhalten blieb, war die Gegend um 1900 spärlich bebaut. Etwas weiter stadtauswärts stand das gewaltige spätklassizistische Doppelmietshaus Bucher Straße 81/83, Baujahr 1888, ein wenig verloren herum und wartete darauf, dass die Stadt es einholen würde. Und das passierte denn auch, und zwar vornehmlich dank des Engagements eines gewissen Nicolaus Weber. Zwischen 1903 und 1908 schuf er weite Teile der noblen Mietshausbebauung an der Rieter-, Rilke- und Rückertstraße sowie die Häuser Bucher Straße 77 und 79 im Rahmen eines privaten Investitionsprojektes – heute würde man sagen: „Quartiersentwicklung“.

Das östliche Teilstück der Rieterstraße mit den Häusern Nr. 2–10 (von rechts), aufgenommen 1915 und 2020. Fotos: Verlag Hans Förster (Sammlung Sebastian Gulden)/Sebastian Gulden

Leider ist über Weber, der in einem von seiner Firma erbauten Haus in der Osianderstraße 4 in Gostenhof wohnte, nicht allzu viel bekannt. Er war gelernter Maurermeister und Inhaber einer großen Baustoffhandlung am Kanalhafen, dort, wo heute Schwabacher Straße und Frankenschnellweg aufeinandertreffen. Weber kaufte, die künftige Richtung des großstädtischen Wohnens und des Stadtwachstums fest im Blick, um 1900 eine ganze Reihe neu parzellierter Grundstücke in Nürnbergs Vorstädten auf, etwa in Gostenhof und St. Johannis. Die Wohnhäuser, die er dort errichtete, veräußerte er nach und nach an private Kapitalanleger.

Webers Bauten sind noch heute leicht zu erkennen, denn an kaum einem Haus – so auch in der Rieterstraße – verzichtete er darauf, sein Monogramm „NW“ gut sichtbar an der Fassade anbringen zu lassen. Dies ist keineswegs Ausbund ungezügelter Eitelkeit oder Großmannssucht; wer um die vorletzte Jahrhundertwende baute – vor allem im gehobenen Segment –, der markierte seine Werke häufig als Ausweis von Stolz auf und Verantwortungsbewusstsein für das Gebaute. Als Kundenwerbung waren die Monogramme eher nicht gedacht, erinnerte sich doch nach kürzester Zeit in der Regel kaum mehr jemand daran, wie sich der betreffende Bauherr mit vollem Namen schrieb, zumindest wenn er oder sie das Gebäude zwischenzeitlich in andere Hände abgegeben hatte. Architektenmonogramme findet man vergleichsweise selten, es sei denn, – und das kam öfter vor – Planer und Bauherr waren ein und dieselbe Person.

Nicht so bei den Weber’schen Häusern rund um die Rieterstraße: Hier fand Weber mit Josef Ochsenmayer und Heinrich Wißmüller die Männer der Stunde. Ochsenmayer, 1854 im oberpfälzischen Waldsassen geboren und aufgewachsen, hatte eine Ausbildung zum Maurermeister absolviert. In Nürnberg lernte er seinen Berufsgenossen Heinrich Wißmüller kennen, mit dem er 1884 ein ausgesprochen erfolgreiches Architekturbüro gründete. Mindestens 30 Jahre lang bestimmten die beiden Baukünstler die Gestaltung der Nürnberger Vorstädte maßgeblich mit. Viele der zahllosen Villen und Mietshäuser von ihrem Reißbrett, die den stilistischen Bogen zwischen Klassizismus und Jugendstil spannen, stehen heute unter Denkmalschutz.

Das Eckhaus Rieterstraße 2, 1911 (noch mit dem Restaurant „Bavaria“ im Erdgeschoss) und 2020 mit der „Franconia-Apotheke an der Burg“. Fotos: unbekannt (Sammlung Sebastian Gulden)/Sebastian Gulden

 Typisch nicht nur für das Werk von Ochsenmayer & Wißmüller, sondern für den Mietshausbau und die Quartiersentwicklung der Zeit um 1900 insgesamt ist, dass die einzelnen Gebäude gewisse Gemeinsamkeiten in Materialität und Gestaltung aufweisen. Diese Entscheidung war sowohl wirtschaftlich, als auch werbewirksam, stellte sie doch so etwas wie eine „Corporate Architecture“ des jeweiligen Bauträgers dar. Dennoch wirkt jedes Haus als selbständiges Kunstwerk, getreu dem lateinischen Lehrsatz „variatio delectat“ (zu Deutsch in etwa „Abwechslung macht Freude“). Bei den üppigen Verkaufspreisen, die die Mietspaläste erzielen sollten, war das auch dringend nötig, denn kein Anleger, die damals in der Regel selbst im Haus wohnen wollten, gab sich mit Architektur von der Stange zufrieden.

Ochsenmayer und Wißmüller griffen auf bewährte Mittel zurück, um die Häuser im Einzelnen und das Ensemble als Ganzes malerisch und repräsentativ wirken zu lassen: Die Eckhäuser versahen sie mit Zwerchhäusern, Polygonal-, Rund- und Kastenerkertürmen, die mit Spitzhelmen oder Welschen Hauben bekrönt wurden. Ausluchten (Standerker), hängende Erker mit bekrönenden Balkonen, offene Loggien, asymmetrische Fassadenaufrisse, Schweifgiebel und aufwendig gestaltete Gauben sorgten für zusätzliche Belebung und spannungsreiches Licht- und Schattenspiel. Der lokalen Bautradition entsprechend erhielten die älteren Häuser zur Straße hin Vollsandsteinfassaden; erst die um 1908 errichteten Bauten im Westen weisen, dem sich wandelnden Geschmack der Zeit folgend, großteils aus Ziegeln gefügte und mit verschiedenen Strukturputzten verkleidete Fronten auf, wobei Gliederung und Bauschmuck weiterhin aus rotbraunem Burgsandstein bestehen.

Der Mietspalast Rieterstraße 11 auf zwei Ansichten von 1912 und 2020. In einem der Fenster im 1. Stock auf der alten Ansicht ist ein Schild mit der Aufschrift „Zu vermieten“ angebracht. Fotos: unbekannt (Sammlung Sebastian Gulden)/Sebastian Gulden

Im Bauschmuck changieren die Häuser und Einfriedungen zwischen dem Jugendstil mit seinem fantasievollen pflanzlichen und geometrischen Ornament und dem lokaltypischen Nürnberger Stil, einer Mischung aus Elementen der späten Gotik – etwa Maßwerk und kielbogige Fensterrahmungen – und der frühen Renaissance, die sich beispielsweise durch Säulen, Pilaster und Gesimse nach antiken Vorbildern, Ranken- und Beschlagwerksornament auszeichnet.

Webers Bauten an der Rieterstraße und rundum sind schwere Kriegsschäden und rücksichtslose Modernisierungen der Nachkriegszeit erspart geblieben. Allein, ein paar der Vorgärten mussten weichen, und in den 1960er Jahren hat man beidseitig je zwei Meter Gehsteig für Kfz-Parkplätze geopfert. Anders als in der Bucher Straße, wo die Stadt des Verkehrs wegen fast alle Vorgärten aufkaufte oder via Grundtausch bzw. gegen Erlass der Abgaben für die Straßenpflasterung übernahm, hat sich der grüne Saum mit seinen nun hochgewachsenen Bäumen und Büschen im östlichen Teil der Rieterstraße weitgehend erhalten. Eine Wohltat für Auge und Mikroklima!

Damit der wunderbare Straßenzug auch weiterhin ein Ort bleibt, an dem das noble Nürnberg der Belle Époque lebendig ist, hat das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege das gesamte Weber’sche Projekt unter Ensembleschutz gestellt. Zudem genießen nahezu alle Häuser Schutz als Einzeldenkmal.

So sind Webers Häuser an der Rieterstraße uns Heutigen ein Lehrstück dafür, dass man durchaus „en gros“ planen und bauen kann, ohne dass die Straßenfluchten nachher einer lebensfeindlichen Beton- und Dämmstoffwüste mit bemitleidenswerten Schotter-Handtuchgärtchen gleichen. Ob die Zeit der großbürgerlichen Mietspaläste dereinst wiederkommt, daran darf man zweifeln. Aber egal für welche Klientel und welchen Geschmack gebaut – ein Ort, der auch ein Zuhause sein soll, muss für die Menschen gemacht sein. Und das können wir Heutigen auch schaffen, wenn wir nur wollen.

Sebastian Gulden

2020-08-28T14:42:45+02:00