Zukunft ungewiss – die „BND-Villa“ in der Wielandstraße 27

//Zukunft ungewiss – die „BND-Villa“ in der Wielandstraße 27

Zukunft ungewiss – die „BND-Villa“ in der Wielandstraße 27

Jedes Dorf, jede Stadt und jeder Stadtteil hat seine geheimnisumwitterten Winkel und Bauten. In Sankt Johannis ist das zweifellos jene Villa an der Ecke Campe- und Wielandstraße, die der Volksmund „BND-Villa“ getauft hat. Bis 2014 betrieb der Bundesnachrichtendienst in den altehrwürdigen Mauern die „Hauptstelle für Befragungswesen“, die Flüchtlingen und Aussiedlern geheimdienstlich relevante Informationen über ihre Herkunftsländer entlocken sollte. Offiziell firmierte die Einrichtung als Teil des Bundesamtes für Ausländerfragen bzw. unter dem Decknamen „Burg-Zinne“. Trotz dieser albernen Tarnungs- und Vertuschungsversuche wusste jede Johanniserin und jeder Johanniser, dass in jenem abgeschotteten Haus der Nachbarschaft Merkwürdiges vor sich ging. So sinister ist die Geschichte der Villa indes nicht durchwegs.

Tatsächlich ist das bestehende Gebäude nicht das erste an dieser Stelle: Schon 1889 ließen sich Wilhelm Leuchs, Kaufmann und Inhaber des Adressbuchverlages Leuchs & Co., und seine Ehefrau Caroline (geborene Meiser) auf dem Grundstück ihr Eigenheim errichten. Leonhard Bürgers Gestaltung des Gebäudes mit zahlreichen Rücksprüngen, prunkvollen Giebeln, einem Eckturm mit Zwiebelhabe und Laterne sowie überreichem Fassadenschmuck im Stil der Neorenaissance entsprach voll und ganz der Vorliebe des späten Historismus für das Malerische, ja Märchenhafte.

Der die Villa umgebende riesige Park, der sich über die Grundstücke Wielandstraße 27 und 29, Campestraße 19 und 21 sowie Lange Zeile 4a, 6 und 8 erstreckte, war Teil eines alten Johanniser Vorstadtgartens. Wie nahezu alle Gartenbesitzer der Gegend hatte sein letzter Eigentümer, der Kaufmann Georg Leonhard Weigel, ihn in den 1880er Jahren parzellieren lassen, um die Grundstücke für teuer Geld als Bauland zu veräußern.

Heute erinnert nichts mehr an die Villa Leuchs. Auch die nahe Leuchsstraße verdankt ihren Namen nicht Wilhelm Leuchs, sondern seinem Vater Michael, den die Stadt Nürnberg 1965 für seine Verdienste als Direktor der städtischen Handelsschule und Direktor der Handelsakademie ehrte. Das heißt: fast nichts. Am nördlichen Eingang des Anwesens Wielandstraße 29 hat ein Zaunpfeiler aus Sandstein, der einst zur Umfriedung des Gartens gehört hatte, die Zeiten überdauert.

Das Firmengelände von G. Hirsch & Sohn an der Poppenreuther Straße, 1927. Die Gebäude und das Mietshaus nebenan stehen noch, sind aber durch Umbauten völlig entstellt. Foto: G. Hirsch & Sohn (Sammlung Sebastian Gulden)

Was aber geschah mit der Villa Leuchs? Diese und einen Teil des Gartens erwarb 1912 ein gewisser Angelo Hirsch. 1863 in Roth in eine jüdische Familie geboren, hatte er die Drahtzieherei seines Vaters Gerson zu einem florierenden Großunternehmen ausgebaut, das ab 1896 in der Burgschmietstraße 43 und ab 1900 auch im Anwesen Kirschgartenstraße 80-82/Poppenreuther Straße 45-47 leonische Waren herstellte. Später kam eine Zweigstelle im französischen Lyon hinzu.* Zu den Spezialitäten des Unternehmens zählten Gold- und Silberfäden und daraus gefertigte Produkte wie Bänder, Borten und Spitzen.

Die ohnehin nicht eben bescheidene Leuchs’sche Villa genügte den Ansprüchen der neuen Hausherrn nicht. Sie betrauten den Nürnberger Architekten Hans Pylipp (1863–1945), Schöpfer des Rathausflügels am Fünferplatz und der Villa Grasser an der Hallerwiese 8, mit einem modernen, größeren Neubau.

Dass selbst komfortable und solide Einfamilien- und Mietshäuser des späten 19. Jahrhunderts nur wenige Jahrzehnte nach ihrer Vollendung schon wieder durch Neubauten ersetzt wurden, war keineswegs ungewöhnlich. In der Zeit der Industrialisierung, da das Wachstum und die Nachverdichtung der Städte immer stärker zunahmen, sank die Lebensdauer der Häuser. Im Falle der Hirschs mögen auch geschmackliche Gründe und der Bedarf nach mehr Raum für die Familie, ihre Gäste und Hausangestellten ausschlaggebend gewesen sein.

Wie Bürgers Entwurf für die Familie Leuchs zeichnet sich auch Pylipps Plan für die Villa Hirsch dadurch aus, dass der Bau vor allem durch die malerische Anordnung der Baumassen wirkt. Dem üppigen Sandstein-Bauschmuck des Vorgängerbaus ist eine klare, flächige und hell gefasste Putzgliederung gewichen, die den aus Sandsteinquadern gefügten Sockel und die nur punktuelle Bauskulptur umso stärker wirken lässt. Die Außengestaltung lehnt sich an barocke Vorbilder an und weist die Villa Hirsch als Zeugnis der Reformarchitektur aus, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ihre Blüte erlebte.

 

Äußerlich hat sich die Villa Hirsch, hier in zwei Aufnahmen von der Kreuzung Campestraße von 1921 und 2019, nur wenig verändert. Fotos: Verlag der Deutschen Bauzeitung (Sammlung Sebastian Gulden)/Sebastian Gulden

1914 konnten Angelo Hirsch, seine Ehefrau Florence (geb. Thurnauer), Tochter Dorothea, genannt Dorle mit den Hausangestellten ihr neues Zuhause beziehen. Tochter Alice und Sohn Stefan waren bereits erwachsen und wohnten damals nicht im Haus ihrer Eltern.

Wie für den Villenbau der Zeit üblich, nahmen die Repräsentationsräume, darunter ein separates Empfangs- und Frühstückszimmer, das Hochparterre ein. An das Wohnzimmer, dem eine gewaltige Terrasse mit Freitreppe in den Garten vorgelagert war, grenzte laut Plan von Architekt Pylipp ein separates „Kinder-Wohnzimmer“ an, in das sich Dorle und ihre Cousinen Hilde und Else, die häufig zu Besuch kamen, zum Spielen zurückziehen konnten. Die Küche befand sich, ebenso wie der Hauswirtschaftsraum, das Tageszimmer der Dienerschaft, die Waschküche und das Lager für die Gartenmöbel, im Souterrain.

Im Obergeschoss lagen die Schlaf- und Kinderzimmer, eine Gardeobe und zwei Bäder. Die Hausangestellten erhielten ihr eigenes, gar nicht so kleines Reich im ersten Stockwerk des Nebenflügels an der Wielandstraße, in dessen Erdgeschoss sich zwei großzügige Gästezimmer und die Garage für das familieneigene Automobil befanden (deren Tor ist heute zu einem Fenster abgemauert). Eine hundertprozentige Verbesserung gegenüber den Zuständen in der Villa Leuchs: Dort nämlich hatten die Dienstbotinnen zuletzt im Keller nächtigen müssen, was dem Hausherrn 1911 eine Beschwerde des Nürnberger Hausangestelltenverbandes einbrockte.

Der gegenüber dem Zustand des späten 19. Jahrhunderts verkleinerte Garten der Villa war noch immer geradezu herrschaftlich und verfügte über ein separates Gartenhaus, das allerdings spätestens nach dem Krieg dem Neubau des Mehrfamilienhauses Campestraße 19/21 zum Opfer fiel. Auch die Pergola an der Ecke Campestraße und der ursprüngliche Gitterzaun an der Nordseite der Villa sind nicht erhalten geblieben.

Die Gartenseite der Villa anno 1919. Die große Terrasse mit den beidseitigen Freitreppen lud zum Frühstück im Freien ein. Foto: Verlag der Deutschen Bauzeitung (Sammlung Sebastian Gulden)

Damals wie heute war die Gegend um die Wielandstraße eine äußerst noble Wohngegend, die von prunkvollen Mietspalästen und freistehenden Villen geprägt war. Zu den Nachbarn der Hirschs zählten etwa die Bankiersdynastie Kohn (Campestraße 10) und die Spiegelglasfabrikantenfamilie Bach (Campestraße 17). Östlich gegenüber der Villa ließ die MAN 1923–1924 von Ludwig Ruff ein Zweifamilienhaus (Wielandstraße 23) für ihre Werksdirektoren und deren Familien errichten.

Lange hielt es die Hirschs nicht in ihrem mondänen Zuhause: Nach ihrer Auswanderung 1919 tauchen Angelo Hirsch und seine Firma „G Hirsch’s Son“ 1922 im Adressbuch von New York City auf. Den Grund für die Auswanderung kennen wir nicht, doch dürfen wir annehmen, dass die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse im Deutschen Reich nach dem Ersten Weltkrieg die Familie dazu bewogen hatte, die Reise auf die andere Seite des Großen Teichs auf sich zu nehmen.

In den USA angekommen tauschten die Hirschs ihren Nürnberger Ansitz gegen eine nicht minder luxuriöse Wohnung in „The Langham“, einem gewaltigen Apartmenthaus im Stil des Neo-Empire an der Westseite des Central Parks, ein. Ihre Villa aber behielten sie und verbrachten dort alljährlich die Sommerurlaube. Bereits 1929 verwitwet, starb Angelo Hirsch 1937 nach kurzer Krankheit an seinem letzten Wohnort, dem noblen New Rochelle vor den Toren New Yorks.

Er musste nicht mehr miterleben, wie sich das NS-Regime seines Heims und seiner Firma bemächtigten: Die Zweigstelle von G. Hirsch & Sohn fiel der „Arisierung“ zum Opfer, die Villa wandelten die Pächter Sophie und Karl Vosteen in eine noble Pension um, in der zu den Reichsparteitagen Größen von Partei und Militär logierten. Mehr noch: Mit bedrückender Gründlichkeit versuchte das Regime, die Erinnerung an die Hirschs aus dem kollektiven Gedächtnis der Nürnbergerinnen und Nürnberger zu tilgen. Selbst Angelo Hirschs Namen im Relief über dem Hauptportal, das Philipp Widmer, Professor für Bildhauerei und Architekturplastik an der Nürnberger Kunstgewerbeschule, 1914 geschaffen hatte, ließen sie abmeißeln. Hirschs älteste Tochter Alice, ihr Ehemann Ernst Gundelfinger und deren Kinder Vicky und Peter, die das Haus zuletzt bewohnt hatten, hatten sich zuvor in die sichere Schweiz absetzen können.

Die Nordseite der Villa mit dem Haupteingang und Relief mit dem „Wappentier“ der Hirschs. Den Namen Angelo Hirschs ließen die Nazis abmeißeln. Foto: Boris Leuthold

Als der Zweite Weltkrieg in Nürnberg zu Ende ging, beschlagnahmte die US-Armee das Anwesen – und ebnete den Weg für die künftige Nutzung: Unter dem Deckmantel einer Abteilung der Air Force Historical Research Agency nutzte der Spionageabwehrkorps (CIC) die Villa 1947–1950, unter anderem wohl, um durch Personenbefragungen Erkenntnisse über den neuen Staatsfeind Sowjetunion zu gewinnen. Der Bundesnachrichtendienst übernahm später Haus und Nutzung, die im Lichte seiner Geschichte anmutet wie eine arg zynische Realsatire. Noch ist zu ermitteln, wann und unter welchen Umständen die Hirschs ihr früheres Zuhause an die Bundesrepublik veräußert haben, nachdem sie es im Zuge der Restitution zurückerhalten hatten.

Seit einigen Jahren nun sind in der BND-Villa die Lichter aus. Nach wie vor hält die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben den Daumen auf Haus und Grundstück. Eine Idee, wie der Staat das unter Denkmalschutz stehende Haus zu nutzen gedenkt, gibt es offiziell nicht. Die Behörde prüft immerhin, ob das Gebäude wieder Wohnzwecken zugeführt werden könnte. Die schlechteste Option wäre dies sicher nicht, ist die beste, weil schonendste Nutzung eines Baudenkmals doch in der Regel die, für die es erbaut worden ist. Ob einer Aufteilung in mehrere Wohneinheiten, die diverse Umbauten notwendig machen würde, aus denkmalfachlicher Sicht der Vorzug zu geben ist, darf man allerdings bezweifeln.

Wünschenswert wäre in jedem Falle eine Nutzung, die der Würde, der Geschichte und dem Überlieferungszustand des Bauwerks angemessen ist. Denn historische Villen mit einer weitgehend intakten Innenausstattung, die gibt es Nürnberg kaum noch. Vielleicht sollte sich Vater Staat ein Vorbild nehmen an der Gesellschaft Museum, die die Villa Kohn gleich ums Eck getreu dem erklärten Willen der jüdischen Vorbesitzer in einen Ort verwandelt hat, der der Öffentlichkeit offen steht, sei es für Bridge-Abende, zum Tanz oder für Feierlichkeiten im historischen Ambiente.

Sebastian Gulden

 

* Die biografischen Angaben zur Familie Hirsch habe ich teilweise dem äußerst lesenswerten und teils aus Lebenserinnerungen der Verwandtschaft der Hirschs gespeisten Aufsatz von Gerda Fink entnommen, der 2004 im 55. Heft der Mitteilungen des Bürgervereins (S. 17–23) erschienen ist.

2020-01-12T17:48:45+01:00