Jugendstil am Stadtrand – die Wießner’schen Häuser an der Bucher und Juvenellstraße

//Jugendstil am Stadtrand – die Wießner’schen Häuser an der Bucher und Juvenellstraße

Jugendstil am Stadtrand – die Wießner’schen Häuser an der Bucher und Juvenellstraße

Schon viele Kunst- und Kulturwissenschaftlicher haben versucht, das komplexe Wesen des Jugendstils zu erfassen. Jene künstlerische Bewegung, die in Deutschland zwischen etwa 1890 und 1914 blühte und alle Künste von der Musik über die Malerei, Plastik und Gebrauchsgrafik bis hin zur Architektur erfasste, beeindruckt noch heute durch ihre Hinwendung zum Formenschatz der Natur, aber auch zu unbedingter Funktionalität ihrer Erzeugnisse, ihren Hang zum Mystischen, Makabren, Lustvollen und Absurden, zur sinistren Dunkelheit, aber auch zum strahlenden Glanz von Allegorien und engelsgleichen Naturgeistern. Der aufkeimende Naturschutzgedanke, die Lebensreform- und die Arts-and-Crafts-Bewegung sowie die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie schufen die Grundlagen zu einem neuen, ganzheitlichen Empfinden von Kunst und Leben.

Die Kreationen der Jugendstilarchitektur erscheinen uns heute bisweilen weltentrückt und versponnen, mitunter gar so, als hätten ihre Schöpfer die Pläne dazu im Rausch gezeichnet. Auch der rege Nürnberger Architekturbetrieb hat im Jugendstil manch herrliche Blüte getrieben. Gleichwohl waren ihre Protagonisten keine Exzentriker à la Gaudi, Endell oder Horta, sondern gestandene Baukünstler im besten Sinne, die zwar nichts Weltveränderndes erschufen, unsere Stadt aber doch um zahlreiche Perlen bereicherten.

Die Häuser Juvenellstraße 22–18 mit Bucher Straße 99 und 101 (von links), aufgenommen 2021. Foto: Sebastian Gulden.

So dürfen wir denn annehmen, dass Architekt Michael Wießner seine Baupläne nicht mit sechs Absinth intus verfasste. Er war einfach ein kreativer und geschäftstüchtiger Kopf, der den Geschmack seiner Zeit in sich aufsaugte und der Kundschaft das gab, was sie wollte. Wießner machte sich 1897 in Nürnberg als Architekt selbständig. Seine Ehefrau Julie war zeitweise Inhaberin eines Putz- und Modewarenhandels, den sie 1896 aufgab. Ab 1903 war ihr Gatte auch als Generalunternehmer mit Wohnung und Büro in der Moltkestraße 4 tätig; sie trat dann bei Grundstücksgeschäften in der Regel als seine Partnerin auf. Wer bei den Wießners Immobilien erwarb, bekam Grundstück, Planung und Baubegleitung aus einer Hand.

Zu Wießners ersten Coups als Bauträger zählte der Ankauf von Ackerland an der Juvenellstraße westlich der Kreuzung Bucher Straße, das er nach eigenen Plänen mit Mietshäusern bebauen ließ.* Streng genommen befinden wir uns damit knapp außerhalb des Vereinsgebietes, denn die Grundstücke liegen bereits auf dem Gebiet der ehemaligen Gemeinde Thon, die 1899 nach Nürnberg eingemeindet wurde. Als Thoner werden sich indes die wenigsten der hiesigen Bewohnerinnen und Bewohner empfinden, ist die räumliche Verbindung zu St. Johannis doch wesentlich enger als zu dem Dorf im Knoblauchsland.

Als Co-Financier hatte Wießner bei seinem Projekt den Flaschnermeister Johann Martin Gorhau im Boot, der einer aus den Haßbergen eingewanderten Familie entstammte. An der Fassade des Hauses Juvenellstraße 22 verewigten sich Wießner und Gorhau mit ihren Initialen.

Nach ihrer Vollendung behielten Gorhau und die Wießners die Häuser zunächst und vermieteten sie in Eigenregie, stießen jedoch nach und nach eines nach dem anderen ab. Die neuen Besitzer waren samt und sonders Eigennutzer, das heißt, sie bewohnten die Häuser mit ihren Familien selbst, einige betrieben auch Läden, Handwerks- und Kleinindustriebetriebe im Parterre oder den Rückgebäuden.

Stolz und Verantwortung für das Geschaffene drücken die Initialen der Bauherrn bzw. Planer Michael Wießner und Johann Gorhau am Haus Juvenellstraße 22 aus. Das Relief dazwischen zeigt einen so genannten „Wilden Mann“, wie er im Bauschmuck der Renaissance häufig vorkommt. Foto: Sebastian Gulden

Als erstes war 1904/1905 das Eckhaus Bucher Straße 97 vollendet. Noch heute erinnert die in Resten erhaltene Beschriftung an der Ost- und Nordfassade daran, dass im Erdgeschoss des Gebäudes dereinst die „Restauration Buchenhain“ beheimatet war. Dieser Name, der humorvoll Bezug auf die Bezeichnung der Hauptstraße nahm, passte dereinst kongenial zu dem zauberhaften Schmuck der Fassaden mit Ranken- und Volutenornament. Leider wussten die jüngeren Generationen diesen Zauber offensichtlich wenig zu schätzen: Während das später ergänzte vierte Obergeschoss schon die einst malerische Dachlandschaft verödete, zumindest aber ein ordentliches Abschlussgesims erhielt, ist der Umbau des Erdgeschosses aus den 1960er oder 1970er Jahren ein seltener Ausbund an Scheußlichkeit, bei dessen Anblick man sich wirklich fragen muss, ob Planer und Bauherr auch nur eine Sekunde daran verschwendet haben, wie ihr Machwerk sich auf das Stadtbild auswirkt. Zu allem Überfluss hat man jüngst auch noch den Ladeneinbau am Anschluss zum Nachbarhaus Bucher Straße 95 gegen krachweiße, belanglose Baumarktware ausgetauscht.

Offenbar ließ sich der Eigentümer der gegenüberliegenden Juvenellstraße 18, für die Wießner 1907 die Genehmigungspläne einreichte, in der Nachkriegszeit davon „inspirieren“. Allein, hier bieten die durch Erker und einfaches, aber wirkungsvolles geometrisches Ornament und Gliederungen belebten Fassaden und die Dachlandschaft mit ihren Schweifgiebeln und dem prominenten Eckzwerchhaus mit Welscher Haube ein positives Gegengewicht, das den Verlust der originalen Erdgeschosszone etwas lindert.

Heute ist das Eckhaus Bucher Straße 97 durch unsensible Zu- und Umbauten grauenhaft entstellt. Der Jugendstilschmuck indes ist zumindest in Teilen erhalten geblieben. Foto: Boris Leuthold.

1905 reichte Wießner die Pläne für die Häuser Bucher Straße 99 und 101 ein. Letzteres enthielt in den Obergeschossen je zwei Vier- bzw. unter dem Dach zwei Dreizimmerwohnungen, die – und das war weiland für Einheiten dieser Größe durchaus ungewöhnlich – bereits mit privaten Bädern ausgestattet wurden. Auch den Laden im Erdgeschoss, den heute das „LottoCaféGlück“ von Susanne Poschet belegt, gab es schon, doch beschränkte sich der Kundenbereich auf die südlichste der drei Segmentbogenarkaden direkt neben der Einfahrt, während der Spezereihändler Georg Regner und seine Familie das heutige Ladenlokal als Wohn- und Esszimmer nutzten.

Jenseits der Einfahrt, an deren Decke Architekt Gerd Poschet als langjähriger Miteigentümer und Hausverwalter bis vor Kurzem sein Kanu aufgehängt hatte, ragt das viergeschossige Rückgebäude auf. Seine großen Industriefenster lassen noch heute erkennen, dass es dereinst gewerblich genutzt wurde: Hier befanden sich in den ersten Jahren Lager und Fertigungshalle der Nürnberger Fahrradsattelfabrik, ab 1928 des Parfümherstellers A. Kamp & Co. Nachdem ein Betrieb für Kunststoffherstellung und Galvanisierung, dessen giftige Abwässer immer wieder Anlass zur Beschwerde gewesen waren, Ende der 1970er Jahre den Betrieb eingestellt hatte, folgte die Firma Faust Eichmeier, die auf die Herstellung geeichter Waagen spezialisiert war. 1994–2000 nutzten Gerd Poschet und seine Kollegen das Gebäude als Büro für Architektur und Ingenieurleistungen. Seit dem letzten Umbau 2008 beherbergt der frühere Industriebau Loftwohnungen.

Die straßenseitige Fassade des Mietshauses Bucher Straße 101 zeigt sich gegenüber dem Zustand um 1905 leicht verändert, versprüht aber dank achtsamer Instandsetzung noch immer den Flair der vorletzten Jahrhundertwende. Foto: Sebastian Gulden

Glanzstück des Ensembles wurde die Bucher Straße 99, die Wießner 1906–1907 in eine Baulücke quetschte. Wießner behielt das Haus zunächst und stieß es erst um 1910 an den Sattlermeister Johann Horneber ab, der im Erdgeschoss Laden, Werkstatt und Privatwohnung bezog. Obschon auch der Aufriss dieses Gebäudes konventionell ausfiel, eignet der Fassade – sie ist wie bei den anderen Häusern des Wießner’schen Ensembles auch in Vollsandstein ausgeführt – dank einiger gestalterischer Kniffe ein besonderer Charme zu: Neben den schartenartigen Fenstern über der Eingangstür fallen die schulterbogigen Fenster im südlichen Fassadenteil, die unterschiedlich geschnittenen Gauben im Dach und natürlich der hohe, sanft geschwungene Giebel mit vorgelagertem Balkon und originalem Jugendstilgeländer auf. Hoch oben über dem sargförmigen Giebelfenster prangt ein irrwitziger Maskaron, der aussieht wie der Glücksdrache Fuchur aus Wolfgang Petersens Verfilmung von Michael Endes „Die Unendliche Geschichte“.

Das Haus Bucher Straße 99 hat sich zwischen etwa 1910 und 2021 in den Details gewandelt, doch gottlob sind die wesentlichen Merkmale seiner fantastischen Gestaltung über die Zeit erhalten geblieben. Fotos: unbekannt (Sammlung Harald Barthel)/Sebastian Gulden

Im Inneren sind die schön erhaltene Treppe mit gedrechseltem Antrittspfosten, die verglasten Wohnungstüren und Fliesenbeläge von hoher Qualität, nehmen sich im Vergleich zu der exzentrischen Fassade aber konservativ aus. Das war um 1905 in Nürnberg durchaus nicht ungewöhnlich, und die Zahl der Jugendstilhäuser, die im Inneren eine Ausstattung mit Türen und Stuckdecken im Stil der Neorenaissance oder des Neubarock bergen, ist größer als die der Gebäude mit konsequenter Innengestaltung im Jugendstil.

Bei der Planung der Häuser an der Nordseite der Juvenellstraße (Nr. 22, 24, 26 und 28) ab 1908 hatte sich Wießner dann offenbar einigermaßen ausgesponnen. Der untergeordneten Bedeutung der Straße entsprechend wirken die Fassaden ruhiger und einigermaßen flächig, der Dekor ist punktuell und zurückhaltend. Doch auch hier wirken die erkerartig gebauchten Rücksprünge – übrigens um 1905 ein sehr beliebtes Gestaltungselement –, die variierenden Giebel und die fantasievollen Portalrahmungen und Reliefs belebend auf das Straßenbild und das ästhetische Empfinden der Vorbeispazierenden.

Die Häuser Juvenellstraße 30–22 (gerade Nummern, von links) im Jahre 2014. Mit Ausnahme des Eckhauses Nr. 28 ist die Gestaltung deutlich zurückhaltender als bei den Gebäuden an der Hauptstraße, doch nicht weniger reizvoll. Foto: Boris Leuthold

Einzig beim Eckhaus Nr. 28 konnte sich Wießner eine aufwendigere Ecklösung im Geiste des Jugendstils, das er mit drei lebhaften Schweifgiebeln und einem Balkon mit original erhaltenem Jugendstilgeländer aus Bandeisen zierte, nicht verkneifen. Dass hier kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Wirtin Margarethe Daum eine Bierkneipe eröffnete, daran erinnern heute nur noch die zugemauerte Eingangstür an der abgeschrägten Hausecke und die später teilweise geschlossenen Bogenfenster im Erdgeschoss.

Das Wießner’sche Ensemble findet schließlich seinen Abschluss an der Stichstraße, die gen Norden vom Hauptast der Juvenellstraße abzweigt. Die Anwesen Nr. 30 und 32 sind qua gestalterischem Aufwand noch zurückhaltender als ihre Nachbarn, die Gestaltung des Bauschmucks steht eher dem Neubarock bzw. dem Neo-Empire nahe denn dem Jugendstil.

An der Juvenellstraße 30 – hier in einer Aufnahme von 2014 – setzt ein moderner verputzter Giebel, der infolge des Dachausbaus errichtet wurde, einen zeitgenössischen Akzent. Foto: Sebastian Gulden

Obschon keines der Häuser Schutz als Einzeldenkmal oder Teil eines Denkmal-Ensembles genießt, haben sich ihre schmucken Fassaden und zahlreiche historische Details – von den oben erwähnten Schnitzern an der Bucher Straße 97 und Juvenellstraße 18 abgesehen – bis heute erhalten. Klar, auch hier haben übereifrige Baustoffvertreter in der Nachkriegszeit ihr Unwesen getrieben und einigen Eigentümern scheinbar pflegeleichte, aber unsäglich hässliche ungeteilte Fensterfüllungen aufgeschwatzt. Auch ein paar der robusten Haustüren mit ihrem Schnitzwerk mussten ihre Existenz für unpassende Klopper mit Stahlrahmen und Reliefglaseinsätzen lassen; andere wurden in den 1930er bis 1950er Jahren durch modernere, aber einigermaßen passende Modelle aus Holz ausgetauscht.

Wenn Sie einmal an den Wießner’schen Häusern vorbeikommen, versuchen Sie doch sich vorzustellen, wie unsere Altvorderen die damals modernen Wohnhäuser wahrgenommen haben mögen. Der ein oder andere mag ihren Dekor wirklich als versponnen und weltentrückt wahrgenommen haben. Doch gewiss bemerkte das Gros der Betrachterinnen und Betrachter, dass die Bauten nach einem leitenden Gesamtkonzept und mit Lust am Gestalten des Stadtbildes entstanden waren. Heute, in Zeiten des Booms und der horrenden Erwerbs- und Baukosten, geht dieser Wille zum Gestalten allzu oft in die Knie vor den finanziellen Erwägungen und Erwartungen der Bauherrn und Investoren. Umso besser, dass Ensembles wie jenes des Architekten Wießner uns als mahnende und lehrende Beispiele erhalten sind und zeigen, wie man’s anders und besser machen kann.

Sebastian Gulden

2022-04-19T14:11:12+02:00